Betrachtung auf dem Hintergrund der Enzyklika „Fratelli tutti“
Für Herbert J. Taylor ging es 1932 um eingängige ethische Prüfkriterien, um sein Unternehmen vor dem Bankrott zu retten. Die eingängige Vier-Fra-gen-Probe war entstanden – und die Orientierung daran war erfolgreich. Warum war das so, aber warum spiegelt die Außenwahr-nehmung von Rotary dieses heute nicht mehr so uneingeschränkt wider?
Die Einfachheit der Fragen mit dem Bezug auf den darin enthaltenen gesunden Menschenverstand und die Kopplung von Eigennutz und Wohl der anderen sorgt für Akzeptanz. Das Leben in der globalisierten Welt führt zu einer Multiper-spektivität, die einen echten Dialog erfordert und nicht im Werterelativismus enden darf. Die Frage nach den das Denken und Handeln steuernden Werten ist neu eröffnet und bedarf einer Rechtfertigung jenseits scheinbar verhandelbarer Werte, die zu leicht einer utilitaristischen Anpassung anheimfallen können oder zumindest dieser Gefahr in der öffentlichen Wahrnehmung aus-gesetzt sind.
Die Vier-Fragen-Probe 1. Ist es wahr? 2. Ist es fair? 3.Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen? 4.Wird es Freundschaft und guten Willen fördern? |
„Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Natio-nalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des So-zialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden.“ […] „Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl wer-den von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert […] Es gibt vor allem mehr Märkte, wo den Menschen die Rolle von Verbrauchern oder Zuschauern zukommt.“ [Papst Franziskus: Enzyklika Fratelli Tutti, 2020, S. 4]
Geschichtsverlust, Dekonstruktivismus in der Kultur und Konsum-orientierung sind Ursache und Erscheinungsbild gleichermaßen. Wenn die Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Einheit als sinnentleerte Herrschaftsinstrumente wahrgenommen werden, dienen sie zur Rechtfertigung jedweden Tuns – im Ausland, aber auch im Inland. Große Betrugsskandale entlarven nicht nur die Aussagen bisher anerkannter Manager als Lügen, sie desavouieren ein gesamtes bisher geltendes System. Verschwö-rungsfanatiker nutzen den entstandenen Freiraum. „Etwas ist wahr, solange es einem Mächtigen genehm ist, und ist es dann nicht mehr, wenn es seinen Nutzen für ihn verliert.“ [Enzyklika Fratelli Tutti, 2020, S. 8]
Das Werte-Gerechtigkeitspostulat bleibt formal bestehen, aber es erscheint wie eine Utopie vergangener Zeiten. Die Distanz zwischen der Obsession für das eigene Wohlergehen und dem geteilten Glück der Menschheit scheint so sehr zuzunehmen, dass man vermuten könnte, dass mittlerweile ein richtiggehendes „Schisma” zwischen dem Einzelnen und der mensch-lichen Gemeinschaft im Gange ist. [vgl. Humana communitas. Schreiben an den Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben zum 25. Jahrestag seiner Gründung (6. Januar 2019), 2.6: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 49 (2019), Nr. 4, S. 10.]
„In der digitalen Welt [sind] giganti-sche wirtschaftliche Interessen am Werke sind, die ebenso subtil wie invasiv Kontrolle ausüben und Mecha-nismen schaffen, mit denen das Ge-wissen und demokratische Prozesse manipuliert werden. [Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit (25. März 2019), 89] Das Handeln von Staaten, Organisationen, Unterneh-men und Einzelpersonen erscheint zunehmend als von Einzelinteressen gesteuerter Individualismus.
Das Ziel von Rotary besteht darin, das Ideal des Dienens als Grundlage des Geschäfts- und Berufslebens zu fördern, indem seine Mitglieder:
Service above self |
Das Bild eines Menschen ohne Be-zug auf soziale und anthropologische Bezüge verliert den Bezug auf das größere Wohl des Ganzen. Wenn in einer Gesellschaft die Vermittlung von Werten in ihrer geistes-wissenschaftlichen Genese verloren-geht, dann schwinden Solidarität, Vertrauen und Wahrheit. Ein Verlust an familiären Strukturen führt Schulen und Erzieher zu fast unlösbaren Aufgaben. Die Anbieter der Informations- und Kommunikationsmittel tragen eine immer stärkere Verantwor-tung, der sie kaum nachkommen. Hier ist ein wertefundierter Staat vonnöten. Erkennbar ethikgeprägtes Handeln ist die Vor-aussetzung für einen offenen Dialog. Der transnationale Wirt-schafts- und Finanzsektor hat mit seinem effizienzorientierten Pa-radigma eine Dimension erreicht, die zum Machtschwund der Nationalstaaten geführt hat. Das Primat der Politik gilt dann nicht mehr. Die Finanzkrise 2007-2008 hat dieses aufgewiesen. Wie wird die Endabrechnung nach der COVID 19-Pandemie aus-sehen?
Wie sehen nun Lösungen aus? Ein offener Dialog, nicht parallel verlaufende Monologe, die damit heute gern verwechselt werden, stellen einen Anfang dar. Respekt vor der Wahrheit vor persön-lichen Interessen wäre wichtig. Die digitale Welt liefert bisher keine Lösung, sie ist vielmehr ein Teil des Problems, da sie die Schwächen häufig ausnutzt. Ein Konsens könnte darin seinen An-fang finden, wenn vermeintliche Toleranz nicht mehr durch Orientierung an der momentanen Zweckmäßigkeit realiter einem Relativismus huldigt. Nötig sind objektive Wahrheiten und feste Grundsätze. „Denn wenn die Kultur verfällt und man keine objek-tive Wahrheit oder keine allgemein gültigen Prinzipien mehr anerkennt, werden die Gesetze nur als willkürlicher Zwang und als Hindernisse angesehen, die es zu umgehen gilt“. [Enzyklika Laudato si’ (24. Mai 2015), 123: AAS 107 (2015), 896] Wahrheit von Manipulation abzu-grenzen geschieht jenseits der reinen Faktenvermittlung. Denn die Auswahl und Darstellung der Fakten kann ma-nipulativ sein, so dass am Ende eine Scheinwahrheit oktroyiert wird.
Große Veränderungen bedürfen ei-nes belastbaren ethischen Hinter-grundes, aber sie werden nicht am Schreibtisch oder in Büros fabriziert.
[Viele Gedanken, auch ohne Kennzeich-nung als Zitat, sind der Enzyklika Fratelli tutti entnommen.]
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Rotary? Der kritische An-satz der Aufklärung „Sapere aude – Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ gilt mehr denn je. Seien wir uns im Sinne der kopernikanischen Wende bewusst, dass wir nicht das Ding an sich, sondern nur die Erscheinungsform für uns wahrnehmen. Im Sinne des kategorischen Imperativs „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allge-meines Gesetz werde“ muss nicht nur die Handlung, sondern viel-mehr noch die dahinterstehende Maxime transparent und glaubwürdig vermittelt werden.
Für die Zukunft bedeutet das, die Jugend dazu zu ertüchtigen, dieses zu erkennen und als wertvoll zu betrachten.
Darum ist die Vermittlung von Bildung der Schlüssel!
Peter Duryn, RC Bad Bederkesa im Oktober 2020